Im gleichen Maße, wie sich der Geist des Menschen entwickelte, wie sich sein
Verstand, seine Fähigkeit logisch und vernünftig zu denken, ausbildete und
differenzierte, dürften auch die Tricks, die Kunstgriffe entstanden sein, deren
sich körperlich schwächere Menschen bedienten, um stärkere zu
überlisten und zu besiegen. Diese Tricks wurden oft zu einem System
zusammengefaßt und von einem bestimmten Personenkreis gepflegt, der diese Kenntnisse
meist streng geheim hielt.
Schon aus der griechischen Antike kennen wir die Kunst des Faustkampfes, das
Ringen und den Pankration, den schrecklichen Allkampf, in dem alles erlaubt war,
eine Art antiken "Catch as catch can".
Fast in allen Ländern wurden solche Kampfsysteme geschaffen, von denen
viele wieder in Vergessenheit gerieten, oder aber, oft nur im geheimen, bis zum
heutigen Tag überliefert wurden.
Wenig bekannt ist in diesem Zusammenhang, daß im Mittelalter die Ringkunst bei
uns in Deutschland in hoher Blüte stand. Sie wurde in den Fechtschulen als
Zweig der Fechtkunst unter dem Namen "Deutsches Freiringen" gelehrt. Wenn das
Schwert beim Kampf aus der Hand geschlagen wurde, mußte ohne Waffen
weitergekämpft werden. Zu diesem Zweck wurden in dem kriegerischen, also
keineswegs sportlichen "Freiringen" eine Menge von Finten, Tricks, Hieben und
Schlägen gelehrt, die in der Technik oft eine verblüffende
Ähnlichkeit mit dem alten japanischen Jiu-Jitsu erkennen lassen.
Die bekanntesten Überlieferungen aus jener Zeit sind die im Jahre 1512 verfaßte
Fechthandschrift von Albrecht Dürer, die 17 mit Wasserfarbe kolorierte
Federzeichnungen enthält und die im Jahre 1539 erschienene Ringerkunst des
Fabian von Auerswald, die aus der Lukas-Cranach-Schule stammt und
künstlerisch sehr wertvolle Darstellungen enthält.
Der Holländer Nikolaus Petter gab dann im Jahre 1674 ein Buch in
deutscher Sprache heraus. "Der künstliche Ringer". Er sagte dazu im Untertitel
"darauß sey zu lernen, wie man sich bey allerhand vorfallenden
Schlägereyen fürsichtig beschützen, alle unredlichen Anfälle,
Stöße, Schläge und dergleichen Angriffe mit geschwinder Fertigkeit
abkehren, und seinem boshaften Ansprenger Kunstgeschicklich begegnen könne".
Das Buch enthält 71 Abbildungen und war praktisch das erste
Selbstverteidigungsbuch für jedermann.
Mit der Entwicklung der modernen Waffentechnik gerieten die Nahkampfkniffe aber
bei uns in Vergessenheit und wurden nicht mehr gelehrt. Nur in Ländern, in denen
die Waffentechnik kaum voranschritt, lebten solche Systeme weiter. Hier ist vor
allem Japan zu nennen, in dem sich unter chinesischem Einfluß verschiedene
Nahkampfsysteme gebildet hatten, deren bekannteste das sog. Gawasa, Toride,
Kogusoku, Kumiuchi, Shubaku, Tai-Jutsu, Kenpo und Hakuda waren. Sie waren sich
in ihrem Wesen, abgesehen von kleinen Unterschieden, fast gleich und sie hatten
auch (wie das Deutsche "Freiringen") dasselbe Ziel: im Nahkampf den Gegner
kampfunfähig machen oder zu töten.
Die japanischen Ritter (Samurai) wurden in diesen Künsten (Sammelname
für alle: Jiu-Jitsu) ausgebildet, bis es den Amerikanern durch die Entsendung
eines Geschwaders unter Kommodore Perry 1853/54 gelang, das bis dahin für den
abendländischen Einfluß völlig abgeschlossene Land zu öffnen.
In der Folgezeit stürzten sich die Japaner begierig auf alles Westliche; sie
wollten lernen und vergaßen, ja verachteten dadurch sogar ihre eigene Tradition.
So geriet auch da noch von vielen Schulen gelehrte Jiu-Jitsu in Vergessenheit.
Wenig bekannt ist es nun, daß es ein Deutscher war, nämlich der aus Bietigheim
stammende Prof. Dr. Erwin Bälz, der den Anstoß zur Renaissance des Jiu-Jitsu gab.
Er war von 1876-1902 Professor an der Kaiserlichen Universität in Tokio und
beobachtete mit Sorge den schlechten Gesundheitszustand seiner Studenten, die nur
möglichst viel lernen wollten und darüber die Ausbildung ihrer
Körpers vergaßen.
Da machte er zufällig in der Provinzhauptstadt Tschiba die Bekanntschaft mit
einem alten Lehrer des Jiu-Jitsu, Totsuka, der die Polizisten der Stadt in dieser
Kunst unterrichtete. Bälz sah Dutzende von Wettkämpfen, und die Leistungen
waren so erstaunlich, daß er sich sagte, das wäre eine wertvolle Gymnastik
für seine Studenten. Er selbst unterwarf sich einem eifrigen Training und ging
mit gutem Beispiel voran. Einer seiner Studenten, Jigoro Kano, der später ein
bekannter Gelehrter wurde, erkannte ebenfalls den Wert dieser alten Kampfmethoden
für die körperlichen und geistigen Erziehungen. Kano machte sich auch auf
dem Gebiet der anderen Sportarten verdient, wurde Vorsitzender des Japanischen
Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees.
Zunächst studierte er aber alle damals gelehrten System und suchte sich hier
einzelnen Elemente heraus. Das, was er begründete, nannte er im Unterschied zum
alten Jiu-Jitsu "Judo", das bedeutete, daß er nicht nur reine Technik
lehren wollte, sondern daß es ihm um die Ausbildung des inneren Menschen ging.
Judo heißt "der Weg, durch Nachgeben zu siegen". Er stellt es auf eine höhere
Ebene als die alte Kriegskunst des Jiu-Jitsu. Die rein technische Kunst (JITSU)
wich einer ethischen Lehre (DO), auf deren Grundsätzen Professor Kano
größten Wert legte.
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